Freitag, 10. April 2009

Nicolas Fargues - Nicht so schlimm

Endlich sitze ich im Zug. Der Tag war lang. Vormittags war ich arbeiten, am Nachmittag noch mal schnell in der Uni. Jetzt freue ich mich auf zuhause. Noch neunzig Minuten Zugfahrt. In meinem Gepäck nur mein iPod und ein neues Buch. Ich suche mir einen Platz und finde nur einen Vierersitz. Die Musik läuft schon, ich packe das Buch aus, lasse den Stress vom Tag mit einem kräftigen Atemzug raus und beginne zu lesen. Und schon quatschst du mich voll.

Ich verdrehe genervt die Augen. Entspannen wollte ich mich. Nach diesem lauten, anstrengenden Tag ein bisschen Ruhe. Du gibst sie mir nicht. Wir kennen uns nicht, aber du textest mich einfach zu. Auch nicht charmant oder interessant. Nein, völlig nervig. "Weißt du? Verstehst du?" Gott, wenn ich etwas hasse, dann sind es diese total unnötigen Satzanhängsel. Dieses penetrante Nachfragen. Nicht dieses urige "Gell?" oder "Woll?", wie man es in manchen Regionen an so ziemlich jede Äußerung dran hängt, die nicht schnell genug die Lippen verlässt.

Du erzählst mir, wie du in einem Restaurant von einem Mädel die Telefonnummer bekommen hast. Nur einen Monat, nachdem dich deine Frau oder Freundin oder wer auch immer betrogen hat. Du warst in Therapie deswegen. Also wegen dem Betrug, nicht wegen der Telefonnummer. Aha, deine Frau hat dich betrogen. Und ihr habt Kinder. Und du hast sie vorher betrogen, hast es ihr erzählt, wolltest sie verlassen, hast dann aber sofort Abstand davon genommen, als du ihr Gesicht gesehen hast. Und dann hat sie dich betrogen. Dass es ein muskelbepackter, großer Schwarzer war, der sie, wie du sagst, flach gelegt hat, scheint dich in deinem Ego ganz schön zu kränken.

Ich höre dir weiter zu, schaue zwar nicht gerade freundlich interessiert, aber was soll ich tun, schließlich ist mein Zug noch ne ganze Weile von meinem Heimatort entfernt. Du erzählst weiter von deiner Therapie, deiner Ehe, eurem Leben irgendwo 7.000km von Paris entfernt, von den Schamlippen deiner Frau. Also mangelnde Offenheit kann man dir nicht vorwerfen. Naja, so seid ihr Franzosen ja scheinbar. Ich sehe mich um, aber die ältere Dame im Vierersitz nebenan hat nichts mitbekommen und schaut fasziniert auf das Burgenpanorama vor den Fenstern.

Jetzt sprichst du von Alice, dem Mädel aus dem Restaurant. Sie ist zehn Jahre jünger als du, liiert, aber das scheint ja kein Problem zu sein. Ihr trefft euch, du nennst ihr all deine Sorgen und Probleme und dann küsst du sie. Du erzählst mir, wie ungewohnt es für dich ist eine weiße Frau zu küssen, nachdem du jahrelang mit einer schwarzen Frau zusammen warst. Das mit den Hautfarben lässt dir scheinbar keine Ruhe. Du verschweigst mir kein Detail, ob ich es wissen will oder nicht. Herrje, so hab ich mir meinen ruhigen Abend nicht vorgestellt. Erstmal kommst du nicht zum Zug, sie schreibt eine Klausur am nächsten Morgen, muss lernen, will dich aber danach wieder sehen. Und dann kommst du. Im wahrsten Sinne des Wortes, herzlichen Glückwunsch und so, du Hecht. Sie wirkt sympathisch, im Gegensatz zu dir, irgendwie missgönne ich dir das Abenteuer. Aber eigentlich ist es mir total egal.

Ich versuche mich ein bisschen auf die Musik zu konzentrieren. Die Hälfte der Strecke liegt noch vor mir. Aber du gibst nicht auf. Erzählst mir von deiner Rückkehr zu deiner Frau, wie ihr es treibt und dabei an andere denkt. Oder du dir einredest, dass auch sie nur an den, ich zitiere dich mal, Schwanz des Mobalesen, denkt, während deine Gedanken bei Alice sind. Ich will dir eigentlich gar nicht mehr zuhören, mich interessiert deine Geschichte, sorry, nen Scheiß, aber was soll ich machen? Wenn ich hier aussteigen und auf den nächsten Zug warten würde, du kämst mit mir. Wahrscheinlich sogar mit aufs Klo um mir dort weiter die Ohren vollzuheulen. Herrje. Ich lächle verkrampft, ergebe mich in mein Schicksal.

Nächster Halt: Zielbahnhof. Ich hab’s geschafft. Die Geschichte ging noch weiter, natürlich, ohne Punkt und Komma. Ich schlendere über den Bahnhofsvorplatz, während er sich vermutlich das nächste Opfer sucht, dem er seine Lebensgeschichte erzählen kann. War er mir eigentlich wirklich unsympathisch? Oder hatte ich am Ende doch etwas Mitleid mit ihm? Eigentlich war er ne ziemliche Wurst. Gekränktes Ego, verfrühte Midlife-Crisis. Sein Stil, sowohl mit Frauen umzugehen als auch zu sprechen, furchtbar. Mit ihm tauschen will ich nicht. Auch wenn am Ende... ach, egal, vielleicht trefft ihr ihn ja irgendwann einmal. Ich schlendere nach Hause und hab meine Ruhe. Und das ist das Beste an diesem Tag.

Keine Kommentare: